
Fassungslos stehen Helene und Lore gemeinsam mit ihrer Mama an der Brüstung ihres Balkons und hören, wie es acht Meter tiefer auf dem Pflaster des Hofes platscht. Da unten liegen es bewegunslos auf dem Rücken, das erste von neun in den letzten Stunden geschlüpften Entlein. Als das letzte die Schale durchstoßen hatte, gab es kein Halten mehr. Sie sprangen aus dem großen Blumenkasten, in dem ihre Mutter drei Wochen lang gebrütet hatte, auf den Boden, watschelten auf das angrenzende Dach, von dort in die Regenrinne und dann stürzte sich das mutigste von ihnen schon über den Rand.
Laut weinend rannten die drei nun die Treppen hinab um zu schauen, was aus dem kleinen Federknäuel geworden war. Und da lag es: Still auf dem Rücken. Doch nicht lange, dann ruckte und zuckelte es und stand plötzlich auf seinen kleinen Beinchen.
Und während sich das Entsetzen der Kinder in ungläubiges Erstaunen verwandelte, prasselten weitere Entlein auf das Pflaster: Platsch, platsch, platsch!
Die Stockentenmutter schien wenig beeindruckt vom Schicksal ihrer Jungen und begab sich schnurstracks auf den Weg, kaum, dass ihre Kinder sich berappelt hatten: Über den Leipziger Hinterhof, quer über die Heinestraße, in der Mitte ein Stückchen den Straßenbahnschienen folgend zum streng bewachten Eingang des Bundesgerichtshofes, 5. und 6. Strafsenat. Geradezu über die Straße am Haus der Burschenschaftler vom Corps Lusatia Leipzig wäre kürzer gewesen. Aber Mutter Stockente hat offenbar Prinzipien.
Völlig unbürokratisch ließ der Wachmann die Entenfamilie mit dem mittlerweile schon erheblich angewachsenen Schwarm von Nachbarskindern auf das Gelände, begleitete sie zum siebzig Meter nördlich gelegenen Flüsschen und wehrte mannhaft mit einem Stock die Angriffe zwei Krähen ab, die sich gerne einen der kleinen Leckerbissen geschnappt hätten.
Und wieder, ohne Zögern, stürzten sich die kleinen Federknäule die Böschung hinab ins Wasser der Kleinen Luppe, hinein in das, was für Enten vielleicht so etwas wie ihr Himmel ist. Himmelfahrt von oben nach unten.
In die Familiengeschichte wird dieses unvergessliche Ereignis allerdings unter dem Namen eingehen, unter dem Helene es am Abend aufgeregt ihren Großeltern schilderte: „Entenregen“!
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